Es gibt diese unscheinbaren Momente, in denen dir plötzlich auffällt, wie sehr du deine Welt färbst, ohne es zu merken. Du schaust auf einen Stift, eine Kaffeetasse, den Stuhl neben dir – nüchterne Gegenstände, scheinbar ohne große Geschichte. Dann fällt dein Blick auf ein Foto deiner Mutter, deines Kindes oder eines Menschen, den du verloren hast. Eben noch war alles neutral, plötzlich ist der ganze Raum anders. Und genau hier zeigt sich auf radikale Weise: Du gibst den Dingen Bedeutung – und das bestimmt, wie du diese Welt erlebst.
Du merkst das besonders dort, wo dein Herz aufspringt oder sich zusammenzieht. Ein bestimmter Tonfall, eine Geste, ein Blick deines Partners, und in Sekundenbruchteilen klebst du eine alte Geschichte darauf. Du fühlst dich übersehen, kritisiert, nicht wichtig genug. Objektiv hat sich kaum etwas verändert. Subjektiv ist alles anders. Nicht, weil die Situation so klar wäre, sondern weil du ihr eine ganz bestimmte Bedeutung gibst, die aus deinen Erfahrungen, Prägungen und alten Verletzungen kommt. So entsteht eine Welt, die sich unglaublich real anfühlt, aber zu einem großen Teil aus inneren Projektionen besteht.
Warum dich deine Bedeutungen gefangen halten
Dass du den Dingen Bedeutung gibst, ist zunächst nichts Schlechtes. Es zeigt nur, wie mächtig dein Geist ist. Problematisch wird es dort, wo deine Bedeutungen zu starren Etiketten werden. Dann siehst du nicht mehr den Menschen vor dir, sondern deine Sammlung von Urteilen über ihn. Du reagierst nicht auf die Gegenwart, sondern auf alte gespeicherte Bilder.
Ein Beispiel: Du hast einen Freund, den du als „zuverlässig, aber konfliktscheu“ abgespeichert hast. Kaum sagt er in einer heiklen Situation nichts, bestätigt dein inneres System: „Klar, typisch er.“ Dass er vielleicht gerade mit seiner eigenen Angst ringt oder einfach müde ist, interessiert dieses System wenig. Es will Recht behalten. Genau so verhält es sich mit Dingen, Situationen, sogar mit der Rolle, die du dir selbst zuschreibst.
Je mehr du daran glaubst, dass deine Bedeutungen wahrer sind als das Leben selbst, desto enger wird dein Erleben. Andere Menschen werden zu Projektionsflächen für deine Hoffnungen und Enttäuschungen. Die Welt draußen wirkt bedrohlich oder ungerecht, weil sie sich nicht so verhält, wie deine inneren Etiketten es gerne hätten. Und du merkst gar nicht, wie sehr du den Dingen Bedeutung gibst, die dir immer wieder dein eigenes Drehbuch vorspielen.
Der Moment, in dem du den Filter erkennst
Die eigentliche Befreiung beginnt in dem Augenblick, in dem du einen Schritt zurücktrittst und ehrlich zu dir sagst: „Ich sehe diesen Menschen nicht, wie er ist. Ich sehe, was ich in ihn hineinlege.“ Es ist ein stiller, unspektakulärer Moment – und gleichzeitig ein tiefer Bruch mit dem gewohnten Denken. Plötzlich ist da eine kleine Lücke zwischen dir und deiner Interpretation.
Du musst die Situation nicht sofort anders „positiv“ bewerten. Es reicht, zu erkennen, dass deine Sicht nicht automatisch die Wahrheit ist. In dieser Lücke taucht eine neue Möglichkeit auf. Du könntest neugierig werden. Du könntest spüren, dass du nicht Opfer der Welt bist, sondern dass du aktiv mitgestaltest, was du zu sehen glaubst. Wenn du den Dingen Bedeutung gibst, dann kannst du auch lernen, diese Bedeutungen zu lockern, zu hinterfragen und im entscheidenden Moment einen Hauch weniger ernst zu nehmen.
Genau darin liegt keine Schuld, sondern eine stille Form von Macht. Du bist nicht ausgeliefert. Du kannst deine innere Brille bemerken. Du kannst merken, wie oft du angreifst, indem du Recht behalten willst. Und du kannst spüren, wie sich etwas in dir entspannt, sobald du dir erlaubst, nicht zu wissen, was etwas „wirklich“ bedeutet.
Eine kleine Übung für deinen Alltag
Stell dir vor, du sitzt abends in deinem Zimmer. Kein großes Ritual, kein besonderer Ort. Du lässt den Blick langsam durch den Raum wandern und nimmst einfach wahr, was da ist: ein Tisch, ein Glas, ein Stuhl, ein Kleidungsstück auf dem Boden, vielleicht das Handy auf dem Sofa. Während du schaust, sagst du innerlich zu dir: „Ich habe diesem Gegenstand die gesamte Bedeutung gegeben, die er für mich hat.“
Du bleibst bei einem Ding einen Moment länger, etwa bei der Tasse auf dem Tisch, und wiederholst leise: „Ich habe dieser Tasse die gesamte Bedeutung gegeben, die sie für mich hat.“ Dann lässt du deinen Blick weitergleiten. Du machst keine Ausnahmen, machst nichts „wichtig“ oder „unwichtig“. Nur dieser schlichte Satz, ganz sanft, ganz nüchtern.
Dann nimmst du – wenn du magst – einen Menschen dazu. Du rufst innerlich das Bild einer Person auf, die dir wichtig ist, oder erinnerst dich an eine Szene mit ihr. Du atmest einmal ruhig ein und aus und denkst: „Ich habe diesem Menschen die gesamte Bedeutung gegeben, die er für mich hat.“ Danach stellst du dir still die Frage: „Zeig dich mir jenseits meiner Geschichten.“ Du musst keine Antwort erzwingen. Achte nur darauf, ob für einen Moment etwas stiller, weiter, friedlicher wird.
Vielleicht spürst du zuerst Widerstand. Ein Teil in dir will an seinen Bewertungen festhalten, weil sie sich vertraut anfühlen und Sicherheit versprechen. Genau das ist Teil der Übung. Du musst nichts wegdrücken. Es genügt, zu bemerken: Da ist ein Festhalten, da ist Angst, ohne diese Bedeutungen nicht zu wissen, wer du bist. Schon dieses Bemerken lockert die starre Struktur, in der du den Dingen Bedeutung gibst, die dich klein hält.
Was bleibt, wenn die Etiketten fallen
Wenn du solche kleinen Experimente öfter machst, geschieht etwas Bemerkenswertes. Zwischendurch tauchen Sekunden auf, in denen du nicht sofort etikettierst. Du schaust einen Menschen an und nimmst zuerst seine Gegenwart wahr, nicht sein „Profil“. Du betrittst einen Raum und siehst nicht nur To-dos und Unordnung, sondern auch Raum, Licht, Bewegung.
Unter all den Bedeutungen, mit denen du die Welt zudeckst, liegt etwas, das sich sehr schlicht anfühlt: Frieden. Nicht spektakulär, nicht dramatisch, eher wie ein stiller Hintergrundton. Du musst nichts Besonderes leisten, um ihn zu spüren. Du brauchst nur für kurze Momente aufzuhören, alles mit deiner Geschichte zu übermalen.
Die Welt bleibt äußerlich dieselbe. Menschen handeln so widersprüchlich wie zuvor, Nachrichten bleiben fordernd, der Alltag stellt seine Ansprüche. Doch dein innerer Bezug verschiebt sich. Du erkennst, dass du den Dingen Bedeutung gibst, aber dass du nicht identisch bist mit diesen Bedeutungen. Du kannst sie kommen und gehen sehen, ohne dich von jeder Welle mitreißen zu lassen. In dieser inneren Freiheit beginnt eine neue Art von Lieben: weniger bedingt, weniger berechnend, mehr interessiert an dem, was jenseits deiner Projektionen wirklich da ist.



