Vielleicht bemerkst du schon beim Lesen dieses Wortes, wie dein Körper reagiert: Reichsbürger. Viele spüren dann sofort Anspannung, Wut, Angst oder genervtes Augenrollen. In diesem Beitrag geht es nicht darum, irgendeine politische Seite zu verteidigen. Es geht darum, eine psychologische Perspektive auf Reichsbürger einzunehmen: Was passiert da innerlich – beim Staat, bei den so bezeichneten Menschen und bei uns als Gesellschaft? Und was hat das alles mit deinen ganz persönlichen Konflikten zu tun?
Was der Begriff „Reichsbürger“ mit uns macht
Der Begriff „Reichsbürger“ ist kein nüchterner, sauber definierter Fachbegriff, sondern ein grobes Etikett. In den Medien steht er oft für Menschen, die den deutschen Staat nicht anerkennen, obskure Rechtsauffassungen vertreten und in manchen Fällen als gewaltbereit beschrieben werden. Gleichzeitig kennst du vermutlich niemanden, der sich selbst stolz als „Reichsbürger“ vorstellt. Das Etikett wird von außen vergeben, und zwar mit starker emotionaler Ladung.
Aus einer psychologischen Perspektive auf Reichsbürger ist interessant, wie breit diese Schublade geworden ist. In ihr landen tatsächliche Extremisten, die bereit sind, ihre Vorstellungen notfalls mit Gewalt zu verteidigen. In derselben Schublade landen aber auch Menschen, die schlicht verunsichert sind, kritische Fragen zur Rechtsstaatlichkeit stellen oder sich von Behörden ungerecht behandelt fühlen. Wer zu laut fragt oder zu hartnäckig schreibt, bekommt schnell das Stigma „Reichsbürger“ – mit allen Folgen für Ruf, berufliche Existenz und soziale Beziehungen.
Umgekehrt neigen einige in dieser Szene dazu, den Staat als feindliche Übermacht zu sehen. Behördenschreiben ohne Unterschrift, wechselnde Uniformdesigns oder uneinheitliche Hoheitszeichen können für sensible Menschen wie Signale der Intransparenz wirken. Aus nüchterner Sicht sind das oft verwaltungspraktische Details. Aus psychologischer Sicht können sie jedoch genau jene Grundangst triggern, die auf beiden Seiten wirkt: die Angst, einer anonymen Macht ausgeliefert zu sein.
Gemeinsame Angst: Eine psychologische Perspektive auf Reichsbürger und Staat
Wenn wir eine psychologische Perspektive auf Reichsbürger einnehmen, kommen wir an der deutschen Geschichte nicht vorbei. Mehrfach ist hier die staatliche Ordnung zusammengebrochen – mit dramatischen Folgen. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte Deutschland Bürgerkrieg, Bandenherrschaft, brutale Straßenkämpfe, Hyperinflation und massenhafte Verelendung. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag das Land erneut am Boden. In der DDR und ihrem Zusammenbruch wiederum verloren viele Menschen von einem Tag auf den anderen die gewohnte Ordnung und ihre wirtschaftliche Sicherheit.
Diese Erfahrungen sitzen tiefer, als uns bewusst ist. Sie prägen noch Generationen später das kollektive Nervensystem. Für Vertreter staatlicher Institutionen ist es daher – psychologisch gesehen – nachvollziehbar, dass sie empfindlich reagieren, wenn jemand Behörden ihre Legitimität abspricht oder seinen „eigenen Staat“ ausruft. Hinter mancher Härte steckt weniger „Böswilligkeit“ als die unbewusste Angst: Wenn wir das laufen lassen, bricht irgendwann wieder alles zusammen.
Auf der anderen Seite stehen Menschen, die sich selbst als wachsam oder kritisch sehen. Sie befürchten, der Staat könnte seine Macht missbrauchen, Regeln beugen oder sich schleichend von rechtsstaatlichen Prinzipien entfernen. Wenn sie dann auf Behörden treffen, die formell, knapp und unpersönlich kommunizieren, verstärkt das ihre Verunsicherung. Sie erleben nicht einen Menschen, der Verantwortung trägt, sondern ein gesichtsloses System – und reagieren mit Misstrauen, Abwehr oder Rückzug in alternative Welten.
So gesehen zeigt eine psychologische Perspektive auf Reichsbürger: Beide Seiten werden von sehr ähnlichen Ängsten angetrieben. Der Staat fürchtet Chaos, Gewalt und den Verlust der Ordnung. Die Kritiker fürchten Machtmissbrauch, Willkür und den Verlust ihrer Freiheit. Statt sich als Spiegelbilder zu erkennen, bekämpfen sie einander – und verschärfen die Spaltung, die sie beide eigentlich vermeiden wollen.
Vom Feindbild zum lebendigen Menschen
Besonders heikel wird es, wenn moderat kritische Bürger in denselben Topf geworfen werden wie gewaltbereite Extremisten. Wer aus Sorge um den Rechtsstaat Fragen stellt, aber sofort in eine Extremismus-Schublade gesteckt wird, zieht sich meist zurück. Übrig bleiben diejenigen, die Radikalität und Konfrontation suchen. Auf diese Weise verstärkt sich genau der Extremismus, den man eindämmen wollte.
Für die sogenannte Reichsbürgerszene gilt auf der anderen Seite: Du wirst keinen Behördenbrief „gewinnen“, indem du in abstrakten Schreiben die Existenz der Bundesrepublik bestreitest oder dich mit skurrilen Formulierungen als „lebender Mann“ oder „lebendiger Mensch“ deklarierst. Für die andere Seite wirkt das nicht wie Freiheitsliebe, sondern wie Realitätsverlust – oder wie verdeckte Kampfansage. Psychologisch betrachtet ist der innere Wunsch dahinter oft nachvollziehbar: gesehen, gehört und ernst genommen zu werden. Die gewählte Form macht genau das aber immer unwahrscheinlicher.
Ein echter lebendiger Mensch zeigt sich anders. Er spricht über das, was die Situation in ihm auslöst: Angst vor Existenzverlust, Wut über empfundene Ungerechtigkeit, Verwirrung über ein Schreiben, das er nicht versteht. Und er ist bereit, sein Gegenüber nicht nur als Funktionsträger, sondern als fühlenden Menschen wahrzunehmen. Wer mit einer Sachbearbeiterin im Finanzamt, einem Mitarbeiter des Ordnungsamts oder einer Richterin so spricht, berührt manchmal mehr, als ihm bewusst ist – gerade weil das im Alltag selten vorkommt.
Auch Behördenvertreter können aus dieser Einsicht etwas mitnehmen. Eine psychologische Perspektive auf Reichsbürger erinnert daran, dass hinter dem Aktenzeichen ein Mensch sitzt, der sich bedroht, beschämt oder überfahren fühlen kann. Klare Begründungen, greifbare Ansprechpartner, respektvolle Sprache – all das sind kleine, aber wirksame Schritte, um die Spirale aus Angst, Abwehr und Eskalation zu durchbrechen. Es geht nicht darum, Rechtsnormen aufzuweichen, sondern darum, sie menschlich zu vermitteln.
Wenn du diesen Blick auf dein eigenes Leben überträgst, wird es spannend. In fast jedem Konflikt gibt es ein Thema, vor dem beide Seiten Angst haben: Verlust von Kontrolle, Liebesentzug, finanzielle Unsicherheit, Gesichtsverlust. Sobald du dieses gemeinsame Angstthema erkennst, verändert sich der Ton. Dein Gegenüber ist dann nicht mehr nur „der Täter“, sondern ein Mensch, der genauso versucht, sich zu schützen wie du. Genau hier beginnt eine andere Form von Konfliktlösung – leiser, ehrlicher und überraschend kraftvoll.



