Warum Finanzkapitalismus einfach nur schlechter Kapitalismus ist

Exklusiver Auszug aus unserem neuen Buch “Kapitalfehler” (Kapitel 5)

Haltlose und zum Teil auch kriminelle Spekulation hat nicht erst seit 2008, sondern über mehrere Dekaden ein nachhaltiges Wirtschaften im Interesse der Menschen verdrängt. Es war eine schleichende, politisch grundsätzlich gewollte Entwicklung, die leider im Einzelnen nicht von allen Akteuren übersehen wurde. Insbesondere die Politik hat sich viel zu lange den Begehrlichkeiten ›der Märkte‹ gebeugt. So konnten sich Banken, Fondsgesellschaften und Börsen von Dienern zu Herren der Ökonomie aufschwingen.
Anders gesagt: Das Finanzkapital sticht seit Langem das Produktivkapital – und damit die gesamte reale Wirtschaft der Güter und Dienstleistungen. Unternehmen und Arbeitnehmer, ja ganze Staaten werden von ›Analysten‹ am Nasenring willkürlich gewählter Kennziffern für Profitabilität oder ›finanzielle Solidität‹ durch die Arena der Weltwirtschaft gezogen. Das rein politisch motivierte Experiment einer einheitlichen Währung für (derzeit 19) vollkommen verschiedene strukturierte Volkswirtschaften hat die globale Krise diesen Finanzkapitalismus in Europa zusätzlich verschärft.
Am Anfang der Entwicklung, für die in der Politik konservative Ikonen wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher standen, regierte noch das Pathos der Freiheit. Staat, Regierungen und mächtige Interessengruppen sollten Wirtschaftsbürgern und Unternehmen nicht länger vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Freiheit bedeutete vor allem Freihandel. Steuern galten wieder als Raub am hart arbeitenden Individuum. Der Staat als Wirtschaftssubjekt: teuer, langsam, ineffizient und bürokratisch – ein ewiger Bremser auf der Straße des Fortschritts. »There is no such thing as society«, liebte die Eiserne Lady zu verkünden. Wenn man ihn nur ließe, dann würde ›der Markt‹ schon alles richten. Nicht nur die Verteilung von Brötchen oder Autos, auch das Eisenbahn- und das Gesundheitswesen oder die Altersvorsorge. Und der riesige Reichtum der Wenigen? Nun, der würde früher oder später auch zu den Massen ›durch­sickern‹. Ja, es gab wirklich mal eine nennenswerte Zahl von Menschen, die das geglaubt haben. Und auch, dass Gier gut sei, meinte nicht nur Gordon Gekko völlig ernst.
Die Privatisierung der britischen Bahn entpuppte sich freilich noch in Thatchers Amtszeit als einer der katastrophalsten Flops der neueren Wirtschaftsgeschichte. Und selbst das in Sachen Sozialstaat notorisch abstinente Amerika hat heute eine allgemeine Krankenversicherung. In der historischen Rückschau auf die Epoche des ›Neo­liberalismus‹ kann man jedoch erkennen, dass es deren Verfechter gar nicht so sehr auf die Deregulierung der Waren- und Dienstleistungsmärkte abgesehen hatten; auch nicht auf die Privatisierung möglichst aller wirtschaftlichen Aktivitäten des Staates.
Dereguliert wurden vor allem die Kapitalmärkte. Ironischerweise wurde dieses fatale Projekt eines nahezu unverblümten »Enrichissez-vous« nicht etwa von ›rechts‹, von bekennenden Marktradikalen wie Reagan und Thatcher oder einem konservativen Ordoliberalen wie Kohl, auf die Spitze getrieben, sondern von ›links‹ – vom Demokraten Bill Clinton und von Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder. Die frühen Heroen des ›freien Marktes‹ waren längst in Rente, als New Yorks Wall Street, Londons Canary Wharf oder die Neue Börse im Frankfurter Industriehof, die Herzmuskeln des globalen Finanzkapitalismus, hypertroph zu wachsen begannen – und folglich permanent zur Insuffizienz neigten. Als selbst Pennäler zum Frühstück Börse online lasen und Derivate mehr Sexappeal hatten als raffinierte Dessous.
Eineinhalb Dekaden später lässt sich klar erkennen, warum die nahezu komplette Deregulierung der Finanz- und Kapitalmärkte ein Irrweg historischen Ausmaßes war. Nicht, weil es ein 82-Millionen-Volk wie die Deutschen nicht ertragen könnte, dass sich die runde Million deutscher Dollarmillionäre keine echten Sorgen machen muss. Selbst den – laut aktueller Forbes-Liste The World’s Billionaires – 1810 Milliardären des Erdballs würde man von Herzen das Beste wünschen. Ließen sie sich doch bequem in manchem Dorf auf der Schwäbischen Alb unterbringen – selbst wenn sie da wohl erst recht Probleme hätten, ihre 6,48 Billionen Dollar Vermögen auf den Kopf zu hauen.[12]
Das eigentliche Problem ist nicht einmal, dass in den Zocker­buden in Börsen und Bankentürmen neben ausgebufften Finanzprofis zunehmend Blender, Betrüger und kriminelle Spekulanten sitzen. Denn es ist eher eine Deutungsfrage, ob Geld wirklich den Charakter verdirbt. Oder ob es dem Lichte gleicht, das eben auch die Motten anzieht.
Näher kommt man dem eigentlichen Problem schon mit dem Faktum, dass 0,1 Prozent der Weltbevölkerung über 80 Prozent des weltweiten Finanzvermögens besitzen. Dies ist nicht bloß ›ungerecht‹ – was eher ein moralisches (und damit tendenziell unlösbares) Problem wäre. Man muss auch nicht wissen, was genau der »Gini-Koeffizient« ist, um zu erkennen, dass diese schräge Vermögensverteilung vor allem Ursache für eines ist: für eine außerordentlich ineffiziente Allokation von Kapital.
Gewiss, ›die Reichen‹ tun das nicht allein im stillen Kämmerlein, sondern mit Hilfe von Heerscharen von Beratern. Doch wenn weltweit rund neun Millionen Menschen entscheiden, wofür das global verfügbare Kapital investiert wird und wofür nicht, dann hat das nichts mit freien Märkten und mit Wettbewerb zu tun. Im Gegenteil: Finanzkapitalismus ist schlicht und einfach ganz schlechter Kapitalismus! – Warum?
Nun, bekanntlich irrt der Mensch, so lang er strebt. Weshalb es gerade bei der Zuweisung wirtschaftlicher Mittel sinnvoll ist, das Risiko des Irrtums möglichst breit zu streuen. Würden aber etwa die Österreicher im Alleingang entscheiden, in welche Unternehmen sie vier Fünftel des weltweit verfügbaren Vermögens stecken, welchen Staaten sie zu welchen Konditionen Geld leihen wollen und wie sich dadurch die verfügbaren Einkommen auf dem Globus verteilen, dann wäre unsere größte Sorge wohl nicht, dass sich DJ Ötzi & Co. dabei auch privat die Taschen vollstopfen. Unsere größte Sorge müsste sein, dass unsere geschätzten Nachbarn allzu oft aufs falsche Pferd setzen. Seriöser formuliert: Unser heutiger Finanzkapitalismus verteilt das globale Investitionskapital, die Mittel zur Finanzierung aller öffentlichen Güter, sowie die verfügbaren Einkommen auf die denkbar schlechteste Weise.
Denn über neun Zehntel des Geldes auf der Welt kursieren ausschließlich innerhalb des Finanzsektors. Es ist in einem Maße, das selbst Marx sich in seinen kühnsten Albträumen nicht hätte ausmalen können, »Geld heckendes Geld«. Ohne längere Umwege in die Realwirtschaft von Gütern und Dienstleistungen produziert es in der Sphäre reiner Spekulation regelmäßig Klumpenrisiken und Kreditblasen gigantischen Ausmaßes. Gewiss, das macht wenige Reiche auf dem Papier zunächst reicher. Einige geradezu pervers reich. Doch vor allem pervertiert es den gesellschaftlichen Sinn von Reichtum selbst. Alles, wozu Kapitalisten das moderne Kapital einst erfunden hatten.
Kredite? Ohne die hätte kein einziges Pfefferkorn die lange und riskante Reise bis Europa geschafft. Niemand hätte sich eine Stahl­fabrik aus dem heimischen Sparstrumpf finanzieren können. Aktien­gesellschaften? Sie waren notwendig, um das Kapital für zuvor weder nötige noch mögliche Investitionen in Eisenbahnen oder Stromnetze zusammenzubekommen. Staatsanleihen? Anfangs eine Notlösung von Königen und Kaisern zur Finanzierung ihrer leider wichtigsten gesamtstaatlichen Aufgabe: des Krieges. Erst die moderne Finanzindustrie machte Kredite – nach den Steuern – zur zweitwichtigsten Geldquelle des Staates. Die Staatsanleihe ist nichts anderes als der Schwitzkasten des Kapitals, dem die Politik seit rund vierzig Jahren kaum noch entkommen kann. Warum? Weil auf jeden konservativen Ökonomen, der um zwölf auf die hohe Staatsverschuldung schimpft und um fünf nach zwölf Steuersenkungen fordert, mindestens tausend Banker kommen, die noch dem letzten verzweifelten Finanzminister oder Kämmerer ein Schuldpapier andrehen. Erst die Finanzindustrie kam auch auf die im Grunde abenteuerliche Idee, dass gefälligst jedermann Schulden zum Zwecke des Konsums zu machen habe. Optionsscheine? Derivate aller Art? Man mag es heute kaum noch glauben, aber auch dies waren einst sinnvolle Finanzinstrumente zur Absicherung echter Geschäfte gegen Preis- und Währungsschwankungen. Erst in den späten 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden sie zu den Lieblingsspielzeugen von Finanzmathematikern und Zockern.
Der Kapitalfehler des Kapitalismus besteht unserer – in diesem Buch hoffentlich einigermaßen gut und verständlich begründeten – Meinung darin, dass kaum jemand die langen Wellen und Zyklen dieses Wirtschaftssystems auf dem Sender hat. Dass weder die Mehrheit der Bürger, der Sparer und der normalen Anleger, noch die Mehrheit der Politiker und der Unternehmer wirklich versteht, wann und warum das System in bestimmten Abständen von echten Investitionen und Innovationen auf realwirtschaftlich am Ende zerstörerische Spekulationen umschwenkt. Und warum man die Finanzmärkte gerade dann an die Kandare nehmen muss, wenn die Realwirtschaft nach allgemeiner Einschätzung blüht und gedeiht.
Denn das haben die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre und die Finanzkrisen seit der Jahrtausendwende gemeinsam: Als alle nach Regulierung riefen, war das Kind namens Kapitalismus schon völlig verzogen. Vernünftige Eltern wissen: In der Pubertät bringen Belehrungen und strenge Regelwerke meist nur noch wenig. Nicht anders ist es mit den Grundregeln des ehrbaren Kaufmanns. Man muss sie bereits dann in Gesetze gießen, wenn außer ehrbaren und erfolgreichen Kaufleuten kaum einer auf dem Markt unterwegs ist. Nur so verhindert man nämlich, dass irgendwann auch eine Karriere als Trickbetrüger oder Taschendieb aussichtsreich erscheinen kann.

Über die Autoren

Die beiden Ökonomen, Querdenker, Redner und Honorarberater Matthias Weik und Marc Friedrich schrieben 2012 gemeinsam den Bestseller “Der größte Raubzug der Geschichte – warum die Fleißigen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden“. Es war das erfolgreichste Wirtschaftsbuch 2013. Im Jahr 2014 gelang ihnen mit “Der Crash ist die Lösung – Warum der finale Kollaps kommt und wie Sie Ihr Vermögen retten” ein weiterer Bestseller. Das Buch wurde im Jahresranking ebenfalls zum erfolgreichsten seiner Gattung.
2016 ist ihr dritter Bestseller „Kapitalfehler – Wie unser Wohlstand vernichtet wird und warum wir ein neues Wirtschaftsdenken brauchen“ erschienen. Im April 2017 ist ihr viertes Buch „Sonst knallt´s!: Warum wir Wirtschaft und Politik radikal neu denken müssen“ das sie gemeinsam mit Götz Werner (Gründer des Unternehmens dm-drogerie markt) geschrieben haben, erschienen. Das Buch schaffte es auf Anhieb auf die auf Platz 1 der manager magazin und Handelsblattbestsellerliste. Matthias Weik und Marc Friedrich sind Initiatoren von Deutschlands erstem offenem Sachwertfonds dem FRIEDRICH&WEIK WERTEFONDS.
Weitere Informationen über die Autoren finden Sie unter: www.friedrich-weik.de, bei Facebook unter www.facebook.com/friedrichundweik/ und bei Twitter www.twitter.com/FRIEDRICH_WEIK.

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