Analyse und Ansichten von Carl Bildt
Der gescheiterte oder auch inszenierte Putschversuch in der Türkei hat uns daran erinnert, in welchen Zeiten der dauerhaften Stabilität die Europäische Gemeinschaft sich innerhalb Europas gebildet und etabliert hat. Der ehemalige schwedische Ministerpräsident und Außenminister Carl Bildt sucht in einer Analyse und einem Ausblick nach einer Lösung der aktuellen Situation. Bildt sieht gerade nach dem „BREXIT“ die Notwendigkeit der Gemeinschaft über Ihre Denkweise und Selbstansicht nachzudenken sowie Änderungen herbeizuführen.
In dieser Hinsicht hat die Vergangenheit keine Ergebnisse gebracht. Ganz im Gegenteil. Direkt nach dem „BREXIT“ trafen sich die Vertreter der sechs Gründungsländer der EU (Belgien, Frankreich, Luxemburg, Italien, Deutschland und die Niederlande), um zu besprechen, was zu tun sei. Es kann niemanden überraschen, dass die anderen 21 EU-Mitgliedsstaaten etwas beleidigt waren, nicht eingeladen worden zu sein. Ein für die EU in der heutigen Zeit typisches Gehabe.
Das Mekka des europäischen Gründungsmythos
Der Vorgang zeigt auch, dass der Gemeinschaft in Zukunft wohl noch größere Herausforderungen bevorstehen, als die nach dem britischen Votum. Die Idee eines Verbandes der gesamten Europäer fördert man nicht, wenn sich ein elitärer Kreis Treffen und Entscheidungen vorbehält. Als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1957 gegründet wurde war es vielleicht die offizielle Aspiration, die auch heute noch für die Europäische Union ausschlaggebend ist, in einer Art Neuschaffung eines Europas unter Karl dem Großen, mehr als 1000 Jahre zuvor. Seit damals sind europäische Regierungschefs oft durch die Hallen des alten Thronsaales von Karl dem Großen in Aachen stolziert und hielten visionäre Reden. Aachen wurde so zu einem Mekka wahrer Gläubigen des europäischen Gründungsmythos und zur dauerhaften Verkündung, dass die Zeit nun reif sei, um ein wirkliches Europa der Integration zu erschaffen.
Die europäischen Werte
Während Carl Bildt der Meinung zustimmen kann, dass Karl der Große eine faszinierende historische Persönlichkeit war, so sieht er den Aufstieg Europas und des Westens nicht im Zusammenhang mit der Zeit Karl des Großens. Karls Reich zerfiel bald nach seinem Tod und es war das Reich eines alten Kriegers. Bildt sieht den Aufstieg und den Ansporn für Europa im europäischen Rahmen der Denker und Händler. Es war ihr Wirken im Lauf der Jahrhunderte, die Europa vom globalen Stauwasser befreiten, die nach dem Zerfall Roms den Kontinent in eine Nabe des intellektuellen Fortschritts und der Innovation steuerten.
Hier wurden die grundliegenden europäischen, menschlichen Werte geschaffen. Es ist das Europa von Kopernikus, Erasmus, Henry dem Navigator, Isaac Newton und anderen Denkern und Pionieren, die mit geschärften Menschenverstand vom Aberglauben und den Vorstellungen ihrer unmittelbaren Vergangenheit brachen, um sich Neuem zu öffnen. Ihr Europa war riesengroß und grenzenfrei. Immanuel Kants Abhandlungen wie Republiken „unaufhörlichen Frieden“ erzielen können, wurden in Königsberg geschrieben (heute Kaliningrad und Teil Russlands).
Große Handelsstädte, wie beispielsweise Danzig, Sevilla oder Venedig schufen Vernetzungen weit über die europäische Ebene hinaus. Die Erneuerung des europäischen Projektes kann nur erfolgreich gelingen, wenn die Inspirationen und Ideen von allen Mitgliedern gestaltet und aufgegriffen werden. Die Europäische Union funktioniert und arbeitet nicht bei einer Differenzierung zwischen „alten“ und „neuen“ Mitgliedern. Nur gleichgestellt ist eine gemeinsame Zukunft vorherbestimmt.
Brüssel aus den Köpfen schaffen!
Im Jahr 2004, als die Europäische Union zehn neue Mitgliedsstaaten (darunter 8 ex-kommunistische Länder) gewann, hatte Carl Bildt der EU-Kommission halb im Scherz vorgeschlagen den Sitz von Brüssel nach Bratislava zu verlegen, um der neuen geografischen Situation gerecht zu werden. Die Idee hinter diesem phantasievollen Gedanken war, die Aufgabe eines Begriffsmodels und die Schaffung eines Neuanfangs mit entsprechender Symbolkraft. Doch Brüssel bewegte sich nicht und blieb stur in seinem alten „Aachen-Paradigma“.
Laut Bildt besteht kein Zweifel darüber, dass die alten „Seilschaften“ der Gründungsmitglieder, die „Konklaven“ der Geister von Aachen, ausschlaggebende Motivation der Befürworter des „Brexit“ waren. Die Bruderschaft innerhalb der „Brüsseler-Blase“ ist ebenso geeignet den Nationalisten in vielen anderen Mitgliedsstaaten stetigen Zulauf zu bescheren.
Der neue Geist der Zusammenarbeit
Es ist ein gefährlicher Zustand, dass Brüssel die innere Kraft vieler Mitgliedsstaaten an sich gerissen hat. In einer im zunehmenden Maße voneinander abhängigen Welt bestand die Notwendigkeit einvernehmliche, vertragliche Lösungen zu allgemeinen Herausforderungen zu schmieden. Die Lösungen erfordern die Einbeziehung und einen neuen Geist der Zusammenarbeit aller Mitgliedsländer der Europäischen Union. Wenn im September die Regierungschefs aller 27 Mitgliedsstaaten in Bratislava zusammentreffen, sollten sie endlich beginnen Europa an seine Mitglieder zurückzugeben.
Die EU nach dem „Brexit“ muss ein einheitlicher Verband sein, der sich viel intensiver an den politischen Realitäten seiner einzelnen Mitglieder orientiert. Obwohl in Brüssel ein Neubau für die zentralistische Organisation der EU entsteht, sollten wichtige Gipfeltreffen und Gespräche in viele verschiedene Orte der einzelnen Mitgliedsstaaten verlegt werden. Vielleicht ist Bratislava der Anfang einer neuen europäischen Bemühung gemeinsam in die Zukunft zu gehen. Der Geist von Aachen ist überholt. Weniger Brüssel und mehr Europa muss der neue Leitsatz sein. Wenn sich dieses Modell Stück für Stück verwirklichen lässt, wird die Europäische Union nicht nur überleben, sie wird vorankommen.
Quellen
Washington Post, Faz, Carl Bildt (more europe-less brussels, project syndicate, aus dem Englischen)